Psychologie trifft Medizintechnik: Das Gehirn beim Gehen beobachten

14. September 2020

Im Kooperationsprojekt „Brain in Motion“ schauen Forschende der Universität Ulm und der Technischen Hochschule Ulm dem Gehirn beim Gehen zu. Tatsächlich gehört das Gehen zu den am besten gelernten motorischen Fähigkeiten des Menschen. Doch infolge einer Erkrankung oder eines Unfalls können die perfekt aufeinander abgestimmten Bewegungsabläufe aus dem Takt geraten. Das Projekt zwischen Psychologie und Medizintechnik soll zu einer verbesserten Gangrehabilitation beitragen: In einer aktuellen Pilotstudie haben die Professoren Cornelia Herbert und Michael Munz neuronale Marker identifiziert, die sich einzelnen Gangphasen zuordnen lassen. Mithilfe Künstlicher Intelligenz lässt sich diese Zuordnung sogar automatisieren.

Gesunde Kleinkinder erlernen in relativ kurzer Zeit und scheinbar spielerisch das Gehen. Doch während dieser automatisierten Bewegungsvorgänge laufen komplexe Prozesse im Gehirn ab: Binnen Millisekunden müssen verschiedene Muskelgruppen koordiniert werden. Für eine sturz- und stolperfreie Fortbewegung ist zudem ein perfektes Zusammenspiel der visuellen, akustischen und sensorischen Wahrnehmung sowie der motorischen Handlungsplanung wichtig. Gerät der Gangzyklus im Erwachsenenalter aus dem Takt – beispielsweise nach einem Schlaganfall oder Sturz – müssen Betroffene das Laufen oft mühevoll wieder erlernen.

Die neurokognitiven, -motorischen und biomechanischen Grundlagen des Gehens wollen die Psychologie-Professorin Cornelia Herbert von der Universität Ulm und der Professor für Softwaretechnik und Sensorik, Michael Munz (Technische Hochschule Ulm/THU), im Detail verstehen. In ihrem Kooperationsprojekt „Brain in Motion“ kombinieren sie hierfür laborexperimentell-psychologische, neurowissenschaftliche sowie technische Methoden. Ihre Forschungsergebnisse sollen zu einer verbesserten Diagnostik und Gangrehabilitation von zum Beispiel Schlaganfall-Patienten, Unfallopfern oder Personen mit neurologischen Erkrankungen beitragen.

Pilotstudie auf dem Laufband

Für eine kürzlich im Fachjournal „Applied Science“ erschienene Pilotstudie haben die Forschenden anhand von Laufbandanalysen und Messungen der Gehirnaktivität (Elektroenzephalografie/EEG) untersucht, wie einzelne, für das Gehen relevante neurokognitive und neuromotorische Funktionen innerhalb von Millisekunden erhoben und automatisiert ausgewertet werden können. Konkret wollten Cornelia Herbert und Michael Munz herausfinden, ob ereigniskorrelierte Potentiale (EKPs) anhand der EEG-Aufzeichnungen einzelnen Phasen des Gangzyklus zugeordnet werden können. Dieser Forschungsfrage sind sie im „Brain-Imaging-Lab“ nachgegangen, das Professorin Cornelia Herbert an der Universität Ulm aufgebaut hat.

In der Pilotstudie wurden gesunde Testpersonen aufgefordert, zunächst in ihrer Wohlfühlgeschwindigkeit auf einem Laufband zu gehen. Zeitweise erhielten die Studentinnen Anweisungen, größere oder kleinere Schritte zu machen oder etwa die Geschwindigkeit des Laufens zu erhöhen. Die ganze Zeit über ist ihr Gangbild von einer im Laufband integrierten Druckmessplatte sowie von Inertialsensoren (IMUs) erfasst worden. Gleichzeitig wurde die Gehirnaktivität der Probandinnen mittels EEG gemessen. „Mithilfe neuer psychologischer und technischer Schnittstellen ist es uns gelungen, EKPs in den EEG-Aufzeichnungen zu identifizieren und diese den verschiedenen Phasen des Gangzyklus zuzuordnen“, erklärt Professorin Cornelia Herbert, Leiterin der Abteilung Angewandte Emotions- und Motivationspsychologie der Universität Ulm. Entscheidend für die Zuordnung seien die beobachtbaren Gangphasen gewesen – wie zum Beispiel der erste Bodenkontakt des linken und rechten Fußes.

Die ereigniskorrelierten Potentiale, die während der initialen Bodenkontakte auftraten, ließen sich tatsächlich bei allen Testpersonen nachweisen: Sie können also als neuronale Marker des Gehens angesehen werden und Auskunft über die von der Hirnrinde ausgehende („kortikale“) Bewegungssteuerung geben. Zudem ergaben sich bei den Untersuchungen Hinweise, welche Gehirnregionen im Verlauf des Gangzyklus aktiv sind. „Unsere Ergebnisse und unser Forschungsprojekt tragen dazu bei, in Zukunft die neuropsychologische Diagnostik von Patientinnen und Patienten mit motorischen Störungen zu verbessern“, so Professorin Cornelia Herbert.

Lernalgorithmus automatisiert die Ganganalyse

In einem zweiten Schritt haben die Forschenden einen an der THU bereits für Ganganalysen verwendeten Lernalgorithmus so trainiert, dass dieser die neuronalen Marker im EEG erkennt und automatisch den Gangphasen zuordnet. „In Zukunft könnten Ganganalyse-Verfahren durch maschinelle Lernalgorithmen in der Anwendung verbessert und vollständig automatisiert werden“, sagt Professor Michael Munz.

Aufbauend auf den ermutigenden Ergebnissen der Pilotstudie wollen Herbert und Munz die Gangrehabilitation und Sturzprävention verbessern – gerne in Kooperation mit Kliniken und Medizintechnik-Anbietern der Region. Derzeit werden die Erkenntnisse in weiteren Stichproben und mit Teilnehmenden unterschiedlicher Altersgruppen untersucht und validiert.

Zum Brain-Imaging-Lab

Das Brain-Imaging-Lab der Universität Ulm wurde von der Leiterin der Abteilung Angewandte Emotions- und Motivationspsychologie, Professorin Cornelia Herbert, vor etwa fünf Jahren aufgebaut. Heute verfügt das Forschungslabor unter anderem über mehrere stationäre und mobile EEG-Systeme sowie über ein funktionelles Nahinfrarotgerät (FNIRS). Dazu kommen ein Laufband mit Druckmessplatte, Inertialsensoren und Auswertungssoftware sowie Peripherphysiologiesysteme. Mit dieser Ausstattung lässt sich die Gehirnaktivität von Probandinnen und Probanden in verschiedensten Situationen messen und analysieren – unter körperlicher oder psychischer Belastung, während emotionaler Kommunikation oder eben während des Gehens.

 

Im Brain-Imaging-Lab geht eine Probandin mit EEG-Haube auf dem Laufband (Foto: Herbert/Uni Ulm)
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