Gestapelte Geschichte

28. Februar 2014

Wer eine solche Wunderkammer öffnet, kann wunderliche Dinge finden: Papiere mit exotischen Zeichen, in die ein Duft sich eingerollt hat – "das sind koreanische Tees", sagt Nick Roericht nüchtern. Jahrelang haben sie in dieser Plastik-Box überwintert, zusammen mit Blechspielzeug, einem Holzdackel und einem Ding, das aussieht wie ein Porzellan-Kiefer, aber wohl ein Bänkchen für Essstäbchen ist. Auf der Karte, die der alte Herr jetzt entdeckt, stehen koreanische Namen. Sie gehören Menschen, die einmal bei ihm gelernt haben und vielleicht verwundert den Holzdackel in Händen hielten, den der deutsche Professor, der eigentlich Hans mit Vornamen heißt, aber Nick genannt wird, da mitgebracht hatte. . .

Hunderte solcher kleiner Wunderkammern in Plastik-Boxen hat der 81-jährige Gestalter auf einem Dachboden in Dellmensingen gestapelt; zusammen mit dem, was in einem weiteren Depot lagert, sind es rund 60 Kubikmeter Material, das Roericht über Jahrzehnte hinweg angesammelt hat. Auf Beschluss des Ulmer Gemeinderats wird das "Roericht-Archiv Gestaltungs-Praxis" demnächst in das Archiv der ehemaligen Hochschule für Gestaltung nach Ulm übersiedeln und nach Roerichts Tod in den Besitz dieses städtischen Archivs übergehen.

Die Beschriftungen auf den Boxen zeigen, wieso: "Lufthansa. Tablettreihe", "Olympiade München 72", "Studentenwege in Regensburg" – nicht nur Roerichts Laufbahn, sein ganzes Leben ist eng mit der legendären Hochschule verflochten. Roericht gehörte zu einer der ersten HfG-Studentengenerationen der 50er Jahre, und sein Diplom-Entwurf ist eine der prominentesten Entwicklungen, die in der HfG entstanden: das Stapelgeschirr TC 100, heute in der Sammlung des Museum of Modern Art in New York vertreten. Jahrzehntelang lehrte Roericht selbst als Professor an der Hochschule der Künste in Berlin, aus der "Dialektik der Lehre" sei sein Archiv auch entstanden, sagt er: Zwei Tüten mit Denkanstößen zu Desgin/Kultur/Technologie habe er immer dabei gehabt für seine Studenten. Sein Büro für Produktentwicklung blieb in Ulm, wo der Designer mit seiner Frau, der Psychologin Gisela Kasten, noch heute lebt – neben seiner einstigen Schule am Hochsträß. 

Seine Bibliothek mit 3000 Büchern hat er dem HfG-Archiv bereits 2010 überlassen, nun trennt er sich auch von allem anderen. Von den winzigen Möbelmodellen und den riesigen Planschränken, die Archivleiter Martin Mäntele am liebsten "als pharaonische Prozession über die Donau" schippern würde. Indes, alles – das müssen Geber wie Nehmer einsehen – wird wohl nicht mitkommen können in das neue Lager in der Pionierkaserne. Anhand des Archivs könne man zeigen, wie ein HfGler die Lehre später umgesetzt habe, sagt Mäntele. Diese Methode, die Roericht "explorativ" nennt – dieses Denken, das sich nicht auf ein Endergebnis fixiert, sondern aus einem aufregenden diskursiven Prozess entsteht, "aus einer hohen Aufmerksamkeit für das, was gerade auf der Welt los ist", wie Gisela Kasten es formuliert. 

"Schriftwechsel", murmelt Nick Roericht nebenbei mit Blick auf eine der Akten-Kisten, "das ist doch ein schönes Wort". In den "Studien", Dokumentationen aus dem Gestaltungsbüro, kann man sich dieses Denken "ansehen": Menschen aus London, New York und Tokio, aus ganz unterschiedlichen Bereichen dachten da gemeinsam. Die Ideen schickte man einander in ellenlangen Faxen zu, etwa zur Frage, wie die Zukunft des Konferierens aussehen könnte. So ausführlich wie in keinem anderen Büro könne man die Stadien einer Projektentwicklung nachvollziehen, sagt Mäntele, den die "Vielfalt der Medien" fasziniert. Manches soll für das Publikum präsentiert werden, vielleicht unter dem Begriff "Stapeln und Sitzen", sagt der Archivleiter, "aber wir müssen erstmal sichten". (Text und Bild: SWP)

Ständige Ausstellung Die Schau "Hochschule für Gestaltung Ulm – Von der Stunde Null bis 1968" im HfG-Archiv (Am Hochsträß 8) ist von Di-So (und Feiertage) von 11-17 Uhr und Do von 11-20 Uhr geöffnet.

Gestapelte Geschichte

60 Kubikmeter Design-Geschichte lagern im Privatarchiv von Gestalter Nick Roericht. Nun gehen die vielen Objekte und Dokumente an das Archiv der ehemaligen Hochschule für Gestaltung in Ulm.

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Nick Roericht inmitten seiner Sammlung
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